Dreifaltiges Himmelszelt - Leseprobe



Leseprobe zum Kapitel: 4.1

Das Dreifaltige Himmelszelt (Diagramm auf der Titelseite) repräsentiert die Kraft und Macht eines Heiligen Ortes

(Der Textauszug wurde gekürzt.)


Nach M. Granet hatten Embleme im alten China eine große Bedeutung, sei es als Diagramme, Zahlen oder in anderer Form. Das mythische Denken war seiner Auffassung nach von der Überzeugung durchdrungen, dass sich die Gegebenheiten durch Embleme in die Wirklichkeit rufen lassen.1

Wenn jede der drei Paargruppen der Hex. ein bedeutungsvolles für sie charakteristisches Emblem hervorbringt, wie z.B. die Doppelaxt, dann könnten die Hexagramme des I‑Ging vielleicht auch noch andere Embleme und Symbole darstellen, z.B. solche des Himmels und der Erde. Man musste nur die Merkmale der Hex. dieser verborgenen Embleme kennen. Der Gedanke, dass solche „Denkmäler“ existierten, ließ mich nicht mehr los. Wenn sie im I‑Ging verborgen waren, konnte ich sie vielleicht finden. Als erstes wollte ich nach einem Emblem des Himmels als Repräsentant des Dao suchen. Der höchsten Himmelsmacht haben die Menschen überall auf der Erde gehuldigt und sie auf vielfältige Weise dargestellt.

„Die Heiligkeit des Himmels ist in zahllosen rituellen oder mythischen Komplexen ... gegenwärtig“, schreibt Mircea Eliade. „Sie bleibt durch den Symbolismus der „Höhe“, der „Auffahrt“, des „Zentrums“ usw. dem religiösen Erlebnis lebendig ...“ 2

Ich konnte nach einem Symbol für die Drei Reinen forschen. Diese sind die drei manifesten Formen des unergründlichen Dao, der Mutter und Ernährerin der Zehntausend Wesen. Als die höchsten und abstraktesten Gottheiten herrschen sie über den frühen Himmel. Beim großen Opferfest der Daoisten spielen sie im Tempel (auf Taiwan z.B.) auch heute noch die Hauptrolle.

Ich konnte aber auch nach einem Emblem für einen Berg suchen.

„Die Berge sind dem Himmel näher“, heißt es bei Eliade: „...Viele Mythologien haben ihren heiligen Berg ... Allen Himmelsgöttern waren auf Anhöhen Kult-Orte vorbehalten.“ (Das Himmelsopfer wurde vom chinesischen Kaiser auf einem Berg dargebracht.)...“3

Das Dao, der Himmel und die Drei Reinen sind Himmelsmächte, also sollten zu ihrer symbolischen Darstellung, falls es eine solche gibt, Hexagramme. des Himmels und ihre Partnerinnen verwendet worden sein. Auf die paarweise Verwendung der Hexagramme ist meines Wissens nie verzichtet worden. Die Himmels-Hexagramme und ihre weiblichen Partnerinnen kannte ich. Das waren die Hexagramme der beiden Paargruppen Himmel/Erde und Himmel/Mensch, die  linke, Gaben spendende und die rechte, strenge Hand des Himmels. Aber welche Eigenschaften mussten diese Hex. sonst noch aufweisen? Auf jeden Fall natürlich "Reinheit". Denn dies war die  Eigenschaft des Himmels. Bei den Drei Reinen als den höchsten Repräsentanten des Himmels, sagt es ja schon der Name.

In einem chinesischen Schöpfungsmythos heißt es:

„Das Reine und Leichte wird oben der Himmel, das Trübe und Schwere wird unten die Erde.“ 4

"Reinheit" wird auch vom Daodejing (Ddj) mit dem Himmel und dem Dao in Verbindung gebracht...

Es stellte sich die Frage, welche Hex. des Himmels als  „rein“ galten. Was bedeutet in diesem Zusammenhang überhaupt „rein“?

Ich vertiefte mich in die alten Schriften und nach und nach wurde mir klar, dass diese Eigenschaft nach daoistischer und auch buddhistischer Auffassung beim Menschen offenbar dann vorliegt, "wenn er sein Herz wie einen Spiegel benutzt und den Dingen weder nach-, noch ihnen entgegengeht; er reflektiert, aber er bewahrt nicht auf..."

Gemäß Zhuangzi ist dies eine Eigenschaft des höchsten Menschen. Indem er sich so verhält, "vermag er die Dinge zu besiegen, ohne sie zu verletzen."5 Außerdem bleibt sein Herz rein und wird nicht von den Dingen der Welt befleckt, wie auch gesagt wurde.

Der chinesische Mönch Han Shan, der im 16. Jahrhundert lebte und das Daodejing kommentiert hat, äußerte sich folgendermaßen hierzu:

"Das Eintreten in den Weg (Dao) ist das Erwachen zum Wesen des Bewusstseins. Es ist ... rein“(!)


Sitzen in Stille

wandelt Herzen in Spiegel,

die nichts festhalten.


„Wenn man zu diesem Bewusstsein erwacht ist, dann sind ... alle Bereiche wie Bilder vor einem Spiegel. Was kommt, bleibt nicht haften, was geht, hinterlässt keine Spuren." 6

 Die Frage war nun, welche Hexagramme verhalten sich wie ein Spiegel? Ich brauchte nicht lange zu überlegen. Das konnten nur die Hexagramm‑Paare sein, welche aus zwei gleichen Trigrammen in vertauschter Reihenfolge bestehen. Wenn sich diese beiden Hex. zu einem Paar vereinigen, dann stellt jeder der beiden Partner den anderen wie in einem Spiegel seitenverkehrt dar. Sie sind Spiegel- und damit im altchinesischen Sinn auch Reinheitspartner.

Insgesamt sind im I-Ging 28 dieser Hex.‑Paare enthalten. 

Wenn es um Dinge geht, die anderswo in der Welt passieren, dann ist es leicht, „sie wie ein Spiegel zu reflektieren und nicht aufzubewahren“. Um wirkliche „Reinheit“ im altchinesischen Sinn kann es sich nur handeln, schien mir, wenn es um die Spiegelung von Dingen geht, die einen selber oder die nähere Umgebung betreffen. Speziell der eigene Gewinn oder Verlust, Niedergang oder Aufstieg sollte sich „im Herzen des höchsten Menschen spiegeln, ohne dass er ihm nach- oder entgegengeht“.

In diesem Sinne „rein“ erschienen mir deshalb von den 28 Hexagramm‑Paaren nur diejenigen, die ihren Spiegelpartner in der gleichen Paargruppe Himmel/Erde, Himmel/Mensch oder auch Mensch/Erde haben. Das sind 14 Hexagramm‑Paare. Davon entfallen auf die Paargruppen Himmel/Erde 4 und Himmel/Mensch 7, insgesamt 11. ...

Das Trigramm Wasser tritt in diesen Hexagrammen am häufigsten auf, u.a. anscheinend deshalb, weil für eine Reinigung, auch eine kultische, Wasser benötigt wird. „... Wasser hat eine sakrale Bedeutung und Weihefunktion7...“

Dass elf Hex.-Paare übrigblieben, ließ mich aufmerken, denn die 11 war im Alten China eine besondere Zahl. Es durften  nicht mehr als elf Figuren an einem Gebäude angebracht sein. Ebenso war 11 die Höchstzahl der in der klassischen chinesischen Architektur für eine einzelne Halle zulässigen Joche.9 Die Zahl 11 verkörperte den höchsten Rang.






Die elf Wächterfiguren auf dem Dach der Halle der höchsten Harmonie in der Verbotenen Stadt in Peking zeigen, dass
dieses Gebäude den höchsten Rang aufweist (eigenes Foto).




Die Wächterfiguren auf dem Dach der Halle der höchsten Harmonie (eigenes Foto).

I
nsgesamt handelt es sich um 12 Figuren. Die Figur rechts außen ist keine Wächterfigur, sondern ein Unsterblicher, der
auf einem Phönix reitet. Die anderen sind mythische Wesen mit speziellen Aufgaben. Die größere Figur ganz links 

ist Chiven, einer der Söhne des Drachenkönigs.




Bei den anderen Gebäuden in der Verbotenen Stadt sind in Abhängigkeit von ihrem Rang weniger Wächterfiguren
auf dem Dach angebracht.

Auf dem Dach oben sind es sechs (eigenes Foto)




Erwartungsvoll stellte ich die elf „reinen“ Himmels‑Hex.‑Paare zusammen, sowohl diejenigen der linken, Gaben spendenden, als auch die der rechten, strengen Hand des Himmels....

Ich zog einen Kreis und ordnete die acht Trigramme auf ihm  folgendermaßen an: den Himmel oben, die Erde unten, links Feuer, rechts Wasser und dazwischen, wie vorgegeben, die übrigen vier Trigramme. Das ist der Kreis des frühen oder ursprünglichen Himmels, der dem mythischen Herrscher Fuxi zugeschrieben wird. Dann zog ich einigermaßen gespannt die Doppel‑Geraden zwischen jeweils zwei Trigrammen, aus denen sich ein „reines“ Hexagramm‑Paar des Himmels zusammensetzt. Es schien sich ein symmetrisches Gebilde zu entfalten.

Als ich fertig war, mußte ich zwei- und dreimal drauf blicken. Ich konnte es kaum glauben: Es ergab sich eine symmetrische, ansprechende Darstellung (Titelbild des Buches), das wahrscheinlich ein Emblem des Himmels ist. Spontan nannte ich sie das „Dreifaltige Himmelszelt“.                              

  Literaturverzeichnis zu diesem Kapitel:                  
1 M. Granet: Das chinesische Denken, S. 149
2 M. Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 132
3 M.Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 132f
4 A. Forke: Die Gedankenwelt..., S.89
5 Günter Wohlfahrt: Zhuang Zi, S. 114, Herder-
   Spektrum, Freiburg im Breisgau, 2002
6 Henrik Jäger: Der Daodejing-Kommentar des Chan Meisters
   Hanshan Deqing, S. 85, Tectum-Verlag, Marburg, 1989
7 M. Eliade: Die Religionen und das Heilige, S 245