Mawangdui I-Ging

(Dieser Aufsatz ist in dem Buch "Das Dreifaltige Himmelszelt im Entschlüsselten I-Ging nicht enthalten.)

1. Alter des '''Mawangdui I-Ging''' im Vergleich zu dem des herkömmlichem I-Ging

Die herkömmliche Version des I-Ging ist die des sogenannten Textus receptus. Sie ist aus der Tang Dynastie (618-906) überliefert. Etwa 10 Prozent hiervon sind ebenfalls aus der Zeit um Christi Geburt auf uns gekommen. Diese letzteren Texte waren in Steintafeln gemeißelt, die bei kriegerischen Auseinandersetzungen zerstört wurden. Die früheste überlieferte Version des I-Ging ist Jahrhunderte älter. Sie wurde 1973 in einem Grab entdeckt, das 168 v. Chr. geschlossen wurde, und ist unter dem Namen Mawangdui I-Ging bekannt.

2. Struktur des Mawangdui I-Ging im Vergleich zu der des Textus receptus

Wie unterscheidet sich die Struktur des Mawangdui I-Ging von der des herkömmlichen I-Ging, des Textus receptus: Im herkömmlichen I-Ging geht jedes Hexagramm einer geraden Ordungszahl aus dem Hexagramm der vorhergehenden ungeraden Ordnungszahl hervor, indem sich seine Struktur umgekehrt und seine Bedeutung bis zur Gegenposition verändert. Diese oder auch eine andere Art der Paarbildung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Hexagrammen ist im Mawangdui I-Ging nicht gegeben. Die Reihenfolge der Hexagramme ist außerdem von der des herkömmlichen I-Ging verschieden. Die Hexagramme sind im Mawangdui I-Ging systematisch geordnet. Bei den ersten 8 Hexagrammen nimmt das Trigramm Himmel den oberen Platz ein, bei den zweiten 8 Hexagrammen das Trigramm Berg. (Jedes Hexagramm besteht bekanntlich aus zwei Trigrammen; ein Trigramm aus drei Yin- bzw. Yang-Linien.) Insgesamt gibt es 8 solcher Gruppen entsprechend der Gesamtzahl von 64 Hexagrammen. In den Hexagrammen jeder Gruppe sind alle 8 Trigramme vertreten. Jeweils ein Hexagramm, das aus zwei gleichen Trigrammen besteht – ein sogenanntes Doppelzeichen – führt eine Achtergruppe von Hexagrammen an, wobei das obere Trigramm innerhalb einer Gruppe das gleiche bleibt und das untere Trigramm nach einer bestimmten Abfolge wechselt, so wie das aus den folgenden Abbildungen der Trigramme und Hexagramme hervorgeht. Die Abfolge der unteren Trigramme bleibt in allen 8 Gruppen bestehen, ist aber von der der oberen Trigramme verschieden:


Die 8 Trigramme; ihre Reihenfolge oben in den Mawangdui-Hexagrammen:


Die 8 Trigramme; ihre Reihenfolge unten in den Mawangdui-Hexagrammen:


Hexagramme im Mawangdui I-Ging; die erste Achtergruppe:


Die Ordnungszahlen über den Hexagrammen sind diejenigen des Mawangdui I-Ging, unter den Hexagrammen die des herkömmlichen I-Ging, desgleichen auch die angegebenen Namen. Die Hexagramm-Namen Song, Tongren und Gou stimmen in beiden I-Ging Versionen überein. Das Hexagramm mit der Ordnungszahl 2 im Mawangdui I-Ging ist dasjenige mit der Ordnungszahl 12 im herkömmlichen I-Ging, das mit der Ordnungszahl 3 dasjenige mit der Ordnungszahl 33 usw.

3. Texte des Mawangdui I-Ging im Vergleich zu denen des Textus receptus

Die Hexagramm-Texte des Mawangdui I-Ging verdienen Aufmerksamkeit. Sie sind in diesem Aufsatz hier auf die Ordnungszahlen der Hexagramme aus dem Textus receptus bezogen. Nach Dominque Hertzer unterscheidet sich ungefähr ein Viertel des gesamten Textes des Mawangdui I-Ging von der überlieferten Version des Textus receptus. (Dominque Hertzer: „Das alte und das neue Yijing“, S. 185 Eugen Diederichs Verlag, München 1996. Der Textus receptus zeigt nach ihren Untersuchungen „eine höhere Abstraktionsebene, während das Mawangdui I-Ging einen konkreten Sachverhalt als Ausgangspunkt wählt.“ Dominque Hertzer: „Das alte und das neue Yijing“, S. 197. Diese konkreten Sachverhalte sind vielfach Opfer zu bestimmten Terminen im Jahr, aber auch Sternbilder, Mondphasen und Begebenheiten, die als bedeutend angesehen wurden.

3.1 Hinweise auf Jahreszeiten im Mawangdui I-Ging

In Texten zu einzelnen Hexagrammen des Mawangdui I-Ging sind außerdem die Jahreszeiten und Solarperioden konkreter beschrieben als im Textus receptus. Die Betonung der Zahl 10, wie sie im I-Ging mehrfach vorliegt, läßt sich u. a. damit erklären, dass, „... durch die Abfolge der ersten 10 Zahlen ... der Schöpfungsprozeß des Kosmos selbst versinnbildlicht wird.“ Dominque Hertzer: „Das alte und das neue Yijing“, S. 117.


Die Orakel-Entscheidungen sind im Mawangdui I-Ging fast immer die gleichen wie im Textus receptus. Dominque Hertzer: „Das Mawangdui Yijing“, S. 178, Eugen Diederichs Verlag München 1996. Die schöpferischen, erhaltenden und auflösenden Kräfte, welche den einzelnen Hexagrammen zugeordnet sind, sind also im Mawangdui I-Ging praktisch die gleichen wie im Textus receptus. -3.2 Die Jahreszeiten im Mawangdui I-Ging und im Textus receptus Die Hexagramme 12) Die Stockung, 36) Die Verfinsterung des Lichts und 60) Die Beschränkung werden in von mir der Solarperiode 12) Große Hitze zugeordnet. Dies ist der Zeitraum vom 23. Juli bis 7. August. Im Textus receptus lautet der Text nach Richard Wilhelm zu Hexagramm 60) Die Beschränkung: „Das Urteil: Beschränkung. Gelingen. Bittere Beschränkung darf man nicht beharrlich üben.“ Der entsprechende Mawangdui Text lautet: „Zur Festzeit wird ein Opfer dargebracht, sind Bäume und Pflanzen zur Festzeit vertrocknet, kann man es nicht bestimmen (oder: beständig sein). Dominque Hertzer: „Das Mawangdui Yijing“, S. 128. Der Mawangdui Text zu Hexagramm 60 beschreibt hier also konkreter die Solarperiode 12) Große Hitze als der Textus receptus. Der Solarperiode 3, die vom 6. bis 20. März andauert, wurden von mir die Hexagramme 3) Die Anfangsschwierigkeit, 27) Die Ernährung und 51) Das Erregende, die Erschütterung, der Donner zugeordnet. Das Urteil zu Hexagramm 3 des Textus receptus lautet bei Richard Wilhelm: „Das Urteil: Die Anfangsschwierigkeit wirkt erhabenes Gelingen ...“ Im Mawangdui I-Ging heißt es zu diesem Hexagramm, das dort die Nr. 23 hat: „Bei Durchbruchsschwierigkeiten ist ein großes Opfer darzubringen von vorteilhafter Bestimmung. ...“ Es handelt sich dabei, wie Dominique Hertzer erläutert, ursprünglich um die „Durchbruchsschwierigkeiten einer jungen Pflanze oder eines jungen Baumes, wie sie zu Beginn ihrer Wachstumsphase, also um Frühlingsbeginn – bei dem Durchbruch durch die Erde entstehen.“ Dominque Hertzer: „Das Mawangdui Yijing“, S. 137. Zu Hexagramm 51) Das Erregende, Das Erschüttern, der Donner,. das nach 4 ebenfalls der Solarperiode 3 im März zugeordnet ist, lautet der entsprechende Text des Textus receptus bei Richard Wilhelm: „Das Urteil: Das Erschüttern bringt Gelingen. Das Erschüttern kommt: Hu, Hu! lachende Worte: Ha, Ha! Das Erschüttern erschreckt 100 Meilen, und er läßt nicht Opferlöffel und Kelch fallen.“ Im Mawangdui I-Ging aber lautet der Text zu diesem Hexagramm: „Zum Frühlingserwachen bringt man ein Opfer dar. Der Frühlingsbeginn kommt bei Neumond, ) spricht man „ya-ya“, der Frühlingsbeginn wird überall verehrt, man vergißt nicht den goldenen Opferlöffel und das Opferfleisch.“ Dominque Hertzer: „Das Mawangdui Yijing“, S. 147. Aus dem Bereich der Natur wird diesem Hexagramm nach Hertzer das Bild des Donners und des Gewitters zugeordnet. Im Text zur zweiten Linie dieses Hexagramms ist auch von einem Gewitter die Rede. Nach der mythologischen Vorstellung Altchinas stieg der Donner zur Frühlings-Tagundnachtgleiche zum Himmel empor, nachdem er den Winter in der Erde verbracht hatte. Die Solarperiode 3 endet einen Tag vor der Frühlings-Tagundnachtgleiche. Die Beziehungen zwischen den Hexagrammen 3 und 51 und der von mir zugeordneten Solarperiode 3 im März sind nach dem Mawangdui I-Ging eindeutiger als nach dem Textus receptus.

Hexagramm 29) Das Abgründige, das Wasser wurde von mir der Solarperiode 5 (5.-19. April zugeordnet. Im Mawangdui I-Ging ist in dem Text zu diesem Hexagramm (hier Hexagramm 17) von dem Herz einer Schwalbe als Opfer die Rede. Das Verhalten der Schwalben wurde aber mit den Tagundnachtgleichen in Verbindung gebracht. Zur Herbst-Tagundnachtgleiche ziehen sie sich nach mythologischer Vorstellung in ihre Verstecke im Meer zurück, zur Frühlings-Tagundnachtgleiche aber kehren sie zurück. (Die Bauern-Kalender wußten allerdings, daß sie nur hin- und herfliegen.) Das Opfer eines Schwalbenherzens war also nur zu oder nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche bis zum Herbst möglich. Die erste Aprilhälfte scheint hierfür kein schlechter Zeitpunkt.

Hexagramm 16 wurde von mir der Solarperiode 16) Herbst-Tagundnachtgleiche, zugeordnet. Im Mawangdui I-Ging ist im Text zu diesem Hexagramm von Überfluß die Rede, der von Hertzer mit vollen Getreidekammern in Verbindung gebracht wird, die sich aus der Verbindung der beiden Trigramme Donner (mit Regen) über der Erde ergeben. Dominque Hertzer: „Das Mawangdui Yijing“, S. 156. Im Herbst wird die Ernte eingebracht.

Die Solarperiode 14) Hitze endet, wurde von mir u.a. Hexagramm 14, dem weiblichen Partner von Hexagramm 13 zugeordnet, das mit der Solarperiode 13) Herbst-Anfang verknüpft ist. Im Textus receptus heißt es bei Wilhelm zu Hexagramm 14: „Das Urteil: Der Besitz von Großem: Erhabenes Gelingen.“ Der Mawangdui Text zu diesem Hexagramm lautet: „Der große Besitz (oder eine reichhaltige Ernte), man bringt ein großes Opfer dar.“ Auch hier verrät der Mawangdui-Text, in welcher Jahreszeit Hexagramm 14 am ehesten angesiedelt ist. Dominque Hertzer: „Das Mawangdui Yijing“, S. 263.

Es gibt noch weitere Hexagramm Texte nach dem Mawangdui I-Ging mit Hinweisen darauf, welcher Jahreszeit sie am ehesten entsprechen, - Hinweise, die im Textus receptus fehlen. Die genannten Zusammenhänge zwischen Hexagrammen und Solarperioden bestätigen einmal, daß das I-Ging ursprünglich ein Kalender von großer Bedeutung war, zum anderen vermehren sie die Belege dafür, daß die Zuordnung der Hexagramme zu den Solarperioden, wie sie von mir vorgenommen wurde, die gleiche ist, wie sie auch dem I-Ging zugrunde liegt.

3.3 Schlußfolgerungen 

Nach Hertzer lassen sich drei verschiedene Ebenen der Wahrsagung unterscheiden: „Die unterste Ebene kann allein durch Hinschauen wahrgenommen werden und bezieht sich ausschließlich auf die Symbolik der Tri- und Hexagramme. Die folgende Ebene ist dem Bereich der Zahlen zugeordnet, welche ... auch die Übertragung der Zahlen auf die kosmischen Phänomene umfaßt. ... Auf der obersten Ebene gilt es nun die Wirkkraft und Bedeutung der einzelnen Linie wie des gesamten Hexagramms zu verstehen und miteinander in Verbindung zu setzen; sie repräsentiert gewissermaßen die philosophische Ebene des I-Ging. ...“ Dominque Hertzer: „Das alte und das neue Yijing“, S. 197. Durch die Aufdeckung der Struktur des I-Ging in meinem Buch "Das Dreifaltige Himmelszelt im Entschlüsselten I-Ging" ist die unterste Ebene der Wahrsagung nicht betroffen, wohl aber die zweite und dritte. Die Fragen nach der Zukunft erfahren hierdurch eine andere Antwort.

Zusammenfassung:

In dem Aufsatz über das Mawangdui I-Ging werden das Jahrhunderte ältere Mawangdui I-Ging und das herkömmliche I-Ging, auch als Textus receptus bezeichnet, in Bezug auf Alter, Struktur und Text miteinander verglichen. Im Mawangdui I-Ging werden die Jahreszeiten stärker betont und damit auch der Charakter des I-Ging als Kalender.

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